Neuerscheinung 2024

Der Vagabund in mir!

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Der Vagabund in mir!

Verschiedene Texte

Kids die keiner will!

Kids die keiner will!

10.10.2024 :: René H. Bartl

"Eigene positive und negative Lebens- und Berufserfahrungen selbstkritisch mit aller Härte reflektiert und in ein Lebensprojekt umgesetzt, kann zur Chance von vielen Menschen werden!“

Erschwerter Start ins Leben:

Dieser Text beginnt im ersten Teil mit Geschichten aus meiner eigenen Kindheit. Sie haben mich geprägt und waren der Beginn meines Lebensideals.
Im zweiten Teil halte ich fest, wie meine Kindheit und Jugend zur Grundlage für meinem Beruf (zu meiner Leidenschaft) geworden sind.
 
Einleitung:
Mein früh bestimmtes Schicksal war es, dass ich mütterlicherseits als Kind eines Verdingkindes und väterlicherseits in die Geschichte einer abgestürzten Aristokratie hineingeboren wurde!

Erster Teil: „Geschichte meiner Vorfahren und meine eigene Kindheit!“
Meine Urgrosseltern mütterlicherseits lebten mit ihrer Familie am Wuhrweg in Sissach (BL), sie hatten drei Kinder. Der Urgrossvater war zeitlebens ein in Sissach geachteter Posamenter. Auf dem ausgebauten Estrich stand ein riesengrosser Webstuhl. Seinem Berufsstand getreu trug er immer seine flache Posamentermütze mit dem farbigen, seidenen Band rund herum. Bis 95-jährig half er auf Leitern steigend bei der Kirschenernte mit. Als er in diesem Jahr ein Hörgerät erhielt, sagte er trocken: „Jetzt glaube ich, werde ich alt“!

Ich war auch dabei, als 1960 vor der reformierten Kirche, beim Kannenfeldplatz in Basel, für einen Zeitungsartikel, ein Foto gemacht wurde, auf dem fünf Generationen abgebildet waren. Meine Schwester mit ihrem Sohn, meine Mutter, mein Grossvater und mein Urgrossvater. Das war damals eine kleine Sensation.

Ich erinnere mich noch gut daran, dass der Urgrossvater 1965 im 98. Lebensjahr an den Folgen einer Grippe starb. Er war zuvor kaum jemals ernsthaft krank. Das ganze Dorf stand an der Strasse, als sich der Trauerzug, mit auf dem Pferdefuhrwerk aufgeladenem Sarg, zum Friedhof bewegte. Ich war 16 Jahre alt und marschierte traurig und voller Stolz direkt hinter dem Sarg. Die vielen Menschen waren für mich ein besonderes Ereignis.

Mein Grossvater war ein besonderer Mann. Er war viermal verheiratet. Mit meiner welschen Grossmutter und ihren acht Kindern lebte er in Fleurier (VD), bevor sie ins Baselbiet zügelten. Er war mehr ein Händler als ein sesshafter Mann. Wenn es ihm an einem Ort nicht mehr passte, packte er seine wenigen Habseligkeiten auf einen Leiterwagen und marschierte mit seiner Familie los. Fand er einen leeren Schopf, bezog er ihn, ohne zu fragen, bis er wieder weggeschickt wurde. Den Lebensunterhalt für seine Familie beschaffte er sich als Händler. Was nicht Niet- und Nagelfest war, verkaufte er. Altes machte er so neu wie möglich, um es in Geld umzusetzen. 1928 haben sie meinen Grosseltern, zur Zeit der Kinder der Landstrasse, alle acht Kinder weggenommen, diese verdingt, in Familien oder in Heime gesteckt. Meine Mutter war als ältestes der Geschwister gerade 12-jährig. Die Behörden kamen mit einem Bus und luden einfach alle Kinder ein. Onkel Willy, der jüngste Bruder meiner Mutter, war halbjährig und meine Grossmutter hielt ihn auf ihren Armen. Sie wollte ihn nicht weggeben. Da hat eine Frau ihn ihr aus den Armen gerissen und in den Arm meiner Mutter gelegt. Beide wurden sie zu den anderen Kindern in den Bus verfrachtet. Meine Mutter erzählte immer wieder, wie sie zurückgeschaut habe und wie die Grossmutter schreiend und schimpfend hinter dem Bus hergerannt sei. So lange, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte. Getrennt von ihren Geschwistern wurde meine Mutter ins Baselbiet verdingt. Viel Arbeiten, Schläge und wenig Schule war der Inhalt ihrer Jugendzeit. Mit 15 Jahren gebar sie, von ihrem Verdingvater missbraucht, einen Sohn. In ihrer Naivität wusste sie bis zum Tag der Geburt nicht, dass sie schwanger war. Man hatte ihr gesagt, dass sie ein Magenproblem und Blähungen habe. Von einer anderen Patientin auf ihren Zustand angesprochen, verneinte sie es, schwanger zu sein. Bei der Geburt nahm man ihr den Sohn weg, ohne dass sie ihn je gesehen hatte. Als sie nach ihrem Kind fragte, erhielt sie zur Antwort, den könne sie nicht haben, er sei bereits einem Ehepaar versprochen. Später habe ich einmal meine Ferien in dieser Familie verbracht. Für den Verdingvater hatte es keine Konsequenzen und meine Mutter musste dort weiterleben. Ihr erstgeborener Sohn war 45 Jahre alt, als er seiner Mutter das erste Mal begegnete. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Sie war derart auf diesen Sohn fixiert, dass ich mir noch ausgeschlossener vorkam, als ich es ohnehin schon war.

Meine Mutter fristete ihr Leben als gelernte Glätterin, als Dienstmädchen und als Putzfrau. Bis sie, während dem zweiten Weltkrieg, im Aktivdienst meinen 15 Jahre älteren Vater kennenlernte. Sie hatte endlich jemanden, der sich um sie kümmerte und mein Vater heiratete eine Putzfrau. Er war der „Baron“ und wollte bedient werden. Holz, Kohlen und Brikette schleppte er ebenso wenig, wie er „Gschwellti“ (gekochte Kartoffeln) ass. Nach seinen Äusserungen war dies der „Frass der armen Leute! Paradox war diese Aussage schon darum, weil wir selbst kaum genug Geld zum Leben hatten. Zusammen mit meinen fünf Geschwistern lebten wir im Gaswerkareal des Basler Rheinhafengebiet in einer Notwohnung und später in einer Wohnung der Stiftung für Kinderreiche Familien. Schwester Frieda, eine reformierte Ordensschwester, versorgte uns immer wieder mit Essen, Kleidern und einem Notgroschen. Die Skier für ins Schulskilager konnten wir bei der Fürsorge abholen.

Meine Urgrosseltern väterlicherseits reisten aus Kärnten (Österreich) kommend in die Schweiz ein. Als gelernter Bierbrauer eröffnete mein Urgrossvater ca. 1880 in Solothurn die damals ausserhalb der Stadt gelegene Brauerei Kardinal und später dazu das Restaurant Krokodil (heute Pizzeria Lokanda) in der Innerstadt. Mein Urgrossvater war schon Braumeister in einer grossen Brauerei in Silberegg (Kärnten). 1889 wurde mein Grossvater in der Stadt Solothurn eingebürgert und entwickelte sich zu einem wohlhabenden Bürger. Er wurde sogar in den prominenten „Fischerclub“ aufgenommen. Sein damaliger Landbesitz umfasste heute einen Grossteil der Stadt Solothurn. Bereits 1901, im Geburtsjahr meines Vaters, besassen sie ihr erstes Auto, mit dem sie bei Überlandfahrten die Menschen in Angst und Schrecken versetzten. Wenig später starb eine seiner Schwestern im Kleinkindalter an einer Lebensmittelvergiftung. Das Dienstmädchen hatte übersehen, dass in der Milch, die sie ihm zum Trinken gab, eine tote Maus lag. Als sozial denkender Mensch bürgte mein Grossvater vielen Kollegen bei Geschäftseröffnungen und anderen Gelegenheiten. Darlehen für solche Anliegen von Banken gab es damals noch kaum. Als im ersten Weltkrieg das Geld an Wert verlor und seine Kollegen ihre Schulden nicht mehr bezahlen konnten, musste er seine Verpflichtungen erfüllen und verlor sein gesamtes Vermögen. Damit verloren auch mein Vater und seine vier Geschwister ihre vorgedachte Existenz und ihr gesamtes Erbe. Nach seiner Internatserziehung und seiner Kochlehre hätte er in den elterlichen Betrieb einsteigen sollen. Zusammen mit seinem Bruder, ein gelernter Kaufmann, kochte er im Speisewagen auf den internationalen Strecken Basel – Wien und Basel – Mailand. Er erzählte mir aus dieser Zeit viele Geschichten. Aus seiner ersten Ehe entstammten vier Kinder. Warum er seine Familie verliess, weiss ich nicht, man redete nicht über solche Dinge. Uns hat man immer gesagt, er habe eine „böse Frau“ gehabt. Mehr wurde uns nicht erzählt. Erst im Verlaufe vieler Jahre lernte ich meine Halbgeschwister kennen. Während den Krisenjahren hat mein Vater in einer Siloreinigungsfirma gearbeitet und später Nachtschicht als Hilfsarbeiter in der Druckerei Birkhäuser in Basel, damit er etwas verdienen konnte. Als Militärkoch hat er im Aktivdienst des zweiten Weltkrieges meine Mutter kennengelernt. Mit ihr hatte er noch einmal fünf Kinder.

Nach drei Töchtern war ich der erste Sohn und der vom Vater lange erwartete Stammhalter. Meine glücklichen Vorzeichen sind, dass ich ein Sonntagskind bin. Geboren im Frühlingsmonat März am 13ten des Jahres 1949, im Basler Frauenspital, um 09.00h. Gemäss Erzählung meiner Mutter hat zu dieser Zeit im Garten gerade die Heilsarmee gespielt und gesungen. (das Lied: „Lass den Sonnenschein herein“!)


Dazu noch ein kleines Glücksspiel gefällig?
  • 1949 = 1 + 9 + 4 + 9 = 23 – 1 - 9 = 13!
  • 4 + 9 = 13!

Zusammen mit Sonntag, Frühling und 13 sind das doch gute Voraussetzungen.

Ich war eine Steisslage und der Eintritt in diese Welt entsprechend schwierig. Meine Mutter beweinte während Tagen meinen birnenförmigen Kopf! Als die Ärzte sie mit viel psychologischem Geschick beruhigt hatten, besuchte uns mein Götti. Ein Mensch ohne das geringste Mitgefühl für seine Nächsten. Er erblickte mich im Kinderbett, richtete seinen Blick in Richtung meiner Mutter und sagte: „Jesses Gott, was het denn dä für e Grind“! Da nutzten auch die psychologischen Kenntnisse der Ärzte nichts mehr und das Weinen begann von Neuem. Entsprechend den Voraussagen hat sich mein Kopf nach wenigen Tagen, in die noch heute bestehende runde Form verändert. Das wird wohl auch meinen Vater beruhigt haben.

Wie schon bei meinen drei älteren Schwestern erwies sich meine Mutter als mit viel Muttermilch beseelte Frau. Neben meinen täglichen Rationen konnte sie noch viel Milch im Kinderspital abliefern. Mit dem erhaltenen Geld konnte sie unsere spärlich vorhandenen finanziellen Mittel aufbessern. Ob sie dafür bei mir gespart hat, weiss ich nicht mehr.

Dafür erinnere ich mich daran, dass ich ab meinem zweiten Lebensjahr in einer unkonventionellen Familienkonstellation aufgewachsen bin. Im Kindergarten meiner Schwester lernte meine Mutter einen Mann kennen. Er hatte auch vier Kinder und war mit seiner Familiensituation sehr unglücklich. Offensichtlich trafen sich zwei Leidensgenossen. Der Mann verliess seine Familie und wurde mein Onkel. Wieder erfuhren wir die Geschichte einer bösen Frau! Solange ich mich erinnern kann, lebte er fortan in unserer Nähe und zügelte immer mit, wenn wir den Wohnort wechselten. Nach der Arbeit, tagsüber und an Wochenenden lebte er bei uns und die Nacht verbrachte er in seiner Einzimmerwohnung. In den Ferien begleitete er uns und teilte selbstverständlich mit meiner Mutter das Doppelzimmer, während mein Vater mit seinem Generalabonnement in Österreich seine Freunde besuchte. Mein Vater behandelte den Onkel, neben meiner Mutter, wie sein zweites Dienstmädchen und wir hatten je nach Situation einen anderen Vater. Nie hätte jemand diese besondere Situation in Frage stellen sollen, da hätten wir ganz massiv reagiert. Wir selbst haben diese besonderen Umstände nie hinterfragt, wir hatten eben einen Vater und einen Onkel. Über mehrere Jahre lebte auch ein Bruder meiner Mutter in unserer Wohnung. Da wurde es doch etwas eng. Vor allem, weil meine Eltern das Schlafzimmer nicht teilten. Mein Vater bestand beharrlich auf sein Einzelzimmer, welches zeitweise auch unsere Wohnstube war. Wenn mein Vater etwas wollte, dann bekam er es. Seine Meinung galt, egal ob es uns passte oder nicht. Er blieb auch in den ärmsten Zeiten ein Aristokrat. Nicht einmal dem Briefträger öffnete er die Türe, ohne weisses Hemd, Krawatte und Kittel. Wenn er das Haus verliess, dann nie ohne vollständige Bekleidung, mit Mantel, Sakko (Kittel), Krawatte, Krawattennadel, Manschettenknöpfen, Pochette (auch Kavalierstuch oder Stecktuch für die Brusttasche in Männer-Sakkos genannt), Hut und Stock. Letzteren schwang er derart elegant (mit vorgestopptem Zwischenschwung), dass er den Eindruck erweckte, aus bester Basler Familie zu stammen.

Unsere ganze Familie lebte daneben ein Leben in Armut. Neben der „Kindererziehung“ arbeitete meine Mutter auf der Lyss weiterhin als Glätterin und in verschiedenen Haushalten, Büros und Badeanstalten auch als Putzfrau. Neben seiner Anstellung als Mechaniker bei der Firma Sandoz in Basel, half ihr der Onkel immer und überall bei der Arbeit mit. Aufgrund seiner gesundheitlichen Situation arbeitete mein Vater als Hilfsarbeiter in der Druckerei Birkhäuser in der Elisabethenstrasse.

In unverzichtbarer Kinderarbeit trug ich ab 12-jährig mit verschiedenen Arbeiten meinen finanziellen Beitrag an die Familie bei. Ich arbeitete in der Metzgerei Kuhn an der Flughafenstrasse als Ausläufer und putzte nach dem Feierabend den Kühlschrank und alle unzähligen weissen Tabletten aus der Auslage. Zum Fleischvertragen erhielt ich ein eingängiges Militärvelo. Mit einer grossen, keilförmigen „Chratte“ voller Fleisch am Rücken fuhr ich von Haus zu Haus und stieg unzählige Treppen hoch. Auch das Blutauswaschen aus Tierhirnen gehörte zu meinen Aufgaben. Zusätzliches Geld verdiente ich als Putzmann in der Badeanstalt St. Johann. Die Gastarbeiter hatten um 1956 oft keine eigene Waschgelegenheit in ihren Zimmern. So kamen sie zum Baden und Duschen in diese traditionsreiche Liegenschaft neben dem St. Johann-Tor. Bei dieser Gelegenheit lernte ich meine ersten italienischen Worte „Primo piano prego”. Die Männerabteilung war im Parterre und die Frauenabteilung im ersten Stock. Mit meinen bescheidenen „Italienischkenntnissen“ konnte ich die Frauen nach oben schicken. Während der Lehre als Möbelschreiner musste ich meinen ganzen Lohn zu Hause abgeben. Mein Taschengeld verdiente ich mir am Donnerstagabend im Abendverkauf und am Samstag im Kaufhaus Börse an der Schifflände. Bei meiner Arbeit als Schreiner trug ich das übliche blauweiss gestreifte Überkleid und in der Börse Hemd mit Krawatte und eine weisse Schürze. Verkaufen durfte ich Meissner Porzellan, Geschirr, Porzellangläser und Garderoben. Es war auch selbstverständlich, dass ich hin und wieder mit der Mutter zum Büroputzen bei einem Patentanwalt mitmusste. Während der Rekrutenschule erhielt ich einen Lohn für Unterstützungsbedürftige, wie meine Eltern das gemacht haben, weiss ich nicht.

In dieser oft doch angespannten Familiensituation blieben Schläge als Erziehungsform nicht aus. Mein Vater wollte Boxer werden. Er hatte Hände so gross wie eine Bratpfanne. Einmal schlug er mir bei der Küchentüre eine Ohrfeige. Wir hatten eine sehr lange Küche. Ich durchsegelte danach die ganze Küche und schlug mit dem Kopf am Fenstersims an. Als mein Vater einmal den Onkel schlagen wollte, stellte ich mich als 14-jähriger dazwischen. Die mittlere meiner Schwestern hatte sich darauf spezialisiert den Vater zu provozieren. Einmal trat ich im Erdgeschoss ins Haus hinein. Ich hörte meine Schwester schreien und raste die Treppen hoch. Sie beschimpfte mein Vater und der hatte soeben zum Schlag ausgeholt. Ich stellte mich (wieder einmal) dazwischen und verspürte die gesamte Handfläche in meinem Gesicht. Die liebe Schwester verliess den Ort des Geschehens lachend, ich nicht! Schläge setzte es auch ab, wenn mein kleiner Bruder weinte. Er schaffte es immer wieder Situationen herzustellen, in denen er der Geplagte zu sein schien und ich der Bösewicht. Einmal setzte er sich hinter dem Haus auf das Motorrad des Onkels. Es war ein Töff Marke Adler. Ich sah gerade noch, wie sich das Motorrad langsam zur Seite neigte. Es bestand die Gefahr, dass mein Bruder unter dem Töff zu liegen kam. Ich rannte hin und hielt das Gefährt. Da ich noch zu wenig Kraft hatte, gelang es mir weder den Töff aufzustellen noch hinzulegen. Mein Bruder rannte schreiend davon. Die Mutter kam hinunter, stellte den Töff gerade und knallte mir eine. Sie ging ja davon aus, dass ich der allein Schuldige war. Einmal stellte sich mein kleiner Bruder vor die Hauseingangstüre, als ich von der Schule nach Hause kam. Nach mehrmaliger Warnung schob ich ihn beiseite. Er schrie wie am Messer und ich fasste eine Ohrfeige, als ich im zweiten Stock unsere Wohnungstüre öffnete. Einmal ärgerte mich meine Schwester derart, dass ich ihr nachrannte. Ich fasste nach einem Stock und als sie zur Haustüre hineinrennen wollte, warf ich diesen gekonnt hinterher. Ich hatte aber nicht damit gerechnet, dass meine Schwester die Türe hinter sich zuzieht. Der Stock durchschlug die Glastüre und meine Mutter mir ihre Hand an den Kopf. So gäbe es viele Geschichten zu erzählen, bei denen ich mir oftmals als unfair behandelt vorkam.

Weitere prägende Lebenserfahrungen aus den Kinderjahren in Stichworten zusammengefasst:
Meine Sozialisation geschah meist ausserhalb der eigenen Familie. Im eigenen System wurde ich oft blossgestellt und ausgelacht. Immer wieder hatte ich Suizidgedanken. In Notwohnungen und auf der Strasse habe ich Lebenserfahrungen gesammelt und das Durchsetzungsvermögen geübt. Ich war vorwiegend auf mich selbst gestellt und habe gelernt, mich ohne Unterstützung Erwachsener durchsetzen. Mit 16 wurde ich aus der Familie ausgeschlossen und erlebte eine gescheiterte Flucht ans Meer, mit dem Ziel ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ich erlebte beerdigte und auferstandene Träume.

Eine eigene Familie wollte ich gründen, glücklich sein und Kinder haben, auch als Lebenssinnthema. Kompromiss musste ich finden zwischen Familie und Selbstverwirklichung, auch in schwierigen Zeiten. Nach 35 Jahren war meine Ehe, mit zwei inzwischen erwachsenen Kindern gescheitert. Dies war der Start in eine neue Lebensphase!

Früh geübter Verzicht förderte den Willen zu leben und auch in schwierigen Situationen nie aufzugeben. Immer wieder musste ich unmögliches wagen, eigene Angst und Unsicherheit überwinden lernen. Als Überlebensstrategie diente es mir, immer eine positive Einstellung zum Leben und zur Arbeit zu behalten.

Sehr dienlich für meine Beratungspraxis waren meine Erfahrungen aus der Privatwirtschaft (vom Möbel- und Bauschreiner bis ins Management) und im Heimwesen (vom Praktikant bis zum Heimleiter).

Mein Leben lehrte mich die Härte im Umgang mit mir selbst und den Ehrgeiz, gesetzte Ziele auch zu erreichen. Besondere Fähigkeiten habe ich zu immer wiederkehrender Selbstmotivation entwickelt. Belastend sind oft meine permanent hohen Ansprüche an mich selbst und an mein Umfeld.

Mein Ziel war es, mich trotz einem scheinbar erschwerten Lebensstart, zum Erfolg zu bewegen und dabei immer wiederkehrende Selbstzweifel zu überwinden. Erfolge lernte ich zur Selbstmotivation zu nutzen. Immer neue Projekte musste ich wagen, auch wenn etwas nicht so ging, wie ich es mir gewünscht hatte. Bei allen Schwierigkeiten behielt ich meine Kompromissbereitschaft und mein fröhlich sein. Auf das Lachen, das Singen und das Musizieren wollte ich nie verzichten. Immer an eine neue Chance glauben, keine Sackgasse auslassen, nie aufgeben!

Zweiter Teil: „Wie meine Kindheit und Jugend zur Grundlage für meinem Beruf (zu meiner Leidenschaft) geworden sind!“
Unter Anderem aus diesen unvollständigen Aufzählungen lassen sich die Lebenstauglichkeit und die Kernmotivation für immer neue Lebensprojekte begründen. Ein psychologisches Gutachten von 1974 sagt unter Anderem aus, dass ich unterfördert und allein gelassen wurde! Derartige Erkenntnisse haben meinen Ehrgeiz gefördert. Wehe jemand sagt „Das kannst Du nicht“! Derartige Aussagen weckten immer schon den zusätzlichen Willen, etwas zu wagen und kompromisslos zum Erfolg zu führen. Einschüchtern oder gar zu Resignation führen, konnten mich derartige destruktive Fremdeinschätzungen nicht!

Gemeinschaftssinn lernen:
Viele Erfahrungen aus dem Leben, beim Spielen, in der Schule, bei den Wölfli, bei den Pfadfindern und bei den Rover, im Handharmonikaclub, im Handball, beim Tanzen, mit den eigenen Kindern, unter Kollegen und Kolleginnen, aus den Berufen, aus Lehraufträgen, aus Ausbildungen und Weiterbildungen, aus philosophischen Wochen und aus umgesetzten Projekten, sind die Grundlage für mein Buch „Der Vagabund in mir!“. Das Ziel ist es, alles immer kritisch zu hinterfragen, um immer noch besser zu werden. Rückschläge und Fehler dienen dem Fortschritt. Nur wer unbeirrt dem Guten verpflichtet seinen Weg geht, wird tatsächlich erfolgreich sein. In meinem Leben profitierten immer wieder Menschen in Randsituationen von meinen Erkenntnissen. Dass sich mein Werken in der Schweiz abspielte und nicht irgendwo im Ausland, begründet sich aus meinem eigenen Leben. Ich hatte erkannt, dass es auch in der Schweiz Menschen gibt, die zum eigenen Wohlergehen und zum Wohlergehen der Gesellschaft auf Hilfe angewiesen sind. Es ist symptomatisch, dass Menschen, die sich weit weg von ihrer Heimat sozial engagieren, zu Lebzeiten mehr Beachtung finden als Menschen, die sich im sozialen schlechten Gewissen ihrer eigenen Heimat einsetzen.

Der gesellschaftlichen Realität unbeachtet, habe ich mich schon in frühen Jahren dazu entschieden, mich in meinem Heimatland zu engagieren. Nicht die Lorbeeren locken, sondern der Stolz, etwas Sinnvolles zu tun!

Meine Grundmotivation mich sozial zu engagieren:
Eltern haben eines gemeinsam: Im Grunde ihres Herzens wollen sie gute Eltern sein. Bestimmte Lebensumstände erleichtern oder erschweren dies. Wenn man davon absieht, dass ein ungewolltes Kind bereits während der Schwangerschaft seiner Mutter unter erschwerten Bedingungen das Licht der Welt erblickt, bleibt doch die Tatsache, dass zum Zeitpunkt der Geburt keines böse und kriminell ist, oder so, wie es einmal werden wird. Natürlich tragen die Gene der Mutter und des Vaters wesentlich dazu bei, welche Voraussetzungen vorhanden sind. Diese in späteren Zeiten zu reflektieren und zu verstehen, birgt die Möglichkeit in sich, ein eigenverantwortetes und eigenständiges Leben zu führen.

Ich stelle fest, dass viele Eltern zwar ein Kind haben wollen, den Belastungen der Erziehung aber nicht gerecht werden können. Viele haben Angst davor, als schlechte Eltern zu gelten und die Kontrolle über ihr Kind zu verlieren. Wären Erziehungsprobleme in der Regel kein Tabu, würden Eltern erkennen, dass sie mit ihren Problemen nicht alleinstehen.

Als im Jahre 2001 das Bundesgericht entschied, dass Jugendliche zu Recht für drei Monate aus der Schule ausgeschlossen werden können, habe ich mich auf Informationstour begeben. Fazit (schriftlich belegbar): Es gab weder Geld noch Ideen und schon gar kein Konzept, wie damit die Probleme der Kinder und deren Familien gelöst werden können. Über ein derart oberflächliches Gerechtigkeitsempfinden und eine derartige Hilflosigkeit erwuchs bei mir ein grosser Ärger. Seit drei Jahrzehnten hatte ich mich in verschiedensten Projekten, in Referaten und an Weiterbildungen für Prävention eingesetzt und jetzt diese traurige Erkenntnis. Leidtragende sind natürlich in erster Linie die Jugendlichen selbst, dazu ihre Familien und ihr gesamtes Umfeld. Hilf- und Ratlosigkeit im gesamten Umfeld der Jugendlichen. Es sprossen Angebote wie Pilze aus dem Boden, die meisten verschwanden so schnell, wie sie entstanden sind. Entweder sie fanden keine Unterstützung bei den Behörden und in der Gesellschaft oder die Fachleute hatten sich ganz einfach überschätzt.

Mein Entscheid war klar! Ich mochte mich nicht mehr mit gescheiten und offensichtlich nichts bewirkenden Diskussionen herumschlagen, ich musste handeln. Beweggrund genug, um während zweier Jahre an einem Konzept zu arbeiten, mein Tagungs- und Bildungszentrum in eine Wohngemeinschaft umzufunktionieren und am 1. September 2003 die «WG-Guggisberg 77B» zu eröffnen.

Klar war für mich auch, dass die Institution klein (sieben Plätze), geschlechtsgemischt (Mädchen und Knaben) sowie total unabhängig vom Staat sein muss. Letzteres bedeutet keinerlei Subventionen, sondern eine ehrliche und transparente Vollkostenrechnung. Die Jugendlichen müssen in einem sozialen Um- und Lernfeld integriert erfahren, was ein „Zusammenleben“ bedeutet. Sie müssen sich mit ihrem eigenen sozialen Netzwerk (Familie, o. ä.) ebenso auseinandersetzen, wie mit ihrer Vergangenheit. Selbstbeweinung und eine ewige Trauer über die schwierige Kindheit und die Unfähigkeit der Erziehenden, sind keine Grundlage für ein glückliches Leben. Im Gegenteil, alles, was ein Mensch in seinem bisherigen Leben erlebt und erfahren hat, hat ihn zu dem gemacht, was er heute ist und jetzt, gerade jetzt, beginnt seine eigene Verantwortung. Jeder Mensch ist letztendlich der Autor seines Lebens, aus ihm entsteht der Wille, eine gute und lebenswerte Zukunft aufzubauen.

Als Gründer und Stifter der Stiftung „Wohn-, Schul- und Therapieheim «WG-Guggisberg 77B» war es mir wichtig, mich für Jugendliche einzusetzen, die aus ihren Familien, aus ihren Schulen, aus Heimen, aus Kliniken, etc. ausgeschlossen wurden. Kids also, die keiner will! Diese Station im Leben der Jugendlichen sollen den Aufenthalt in geschlossenen Institutionen oder im Gefängnis verhindern! Ich hatte festgestellt, dass es eine „Marktlücke“ gibt. Darunter verstehe ich eine Institution, die mit strenger, aber liebevoller und konsequenter Begleitung, einem klaren Rahmen, mit viel persönlichem Engagement aller Mitarbeitenden und mit unkonventionellen Methoden, den Lebenskampf mit den Jugendlichen aufnimmt. Unter Erfolgsquote verstanden wir, dass Jugendliche nach der Zeit bei uns ihre Straftaten aufgearbeitet haben, keine neuen dazukommen und dass sie in ein Leben in Freiheit austreten können. Sie betrug ca. 85%! Wenn man bedenkt, dass die Vollkosten in der Psychiatrie bis zu CHF 1.000,00 und im Gefängnis bis zu CHF 1.500,00 betragen, gingen die „Einsparnisse“ für den Staat durch unsere Institution in hohe Millionenzahlen!