Neuerscheinung 2024

Der Vagabund in mir!

Klickt auf das Cover oben, um mehr zu erfahren.
 

Der Vagabund in mir!

Verschiedene Texte

Ich sterbe, damit ich lebe!

Ich sterbe, damit ich lebe!

02.10.2024 :: René H. Bartl
Ich war gerade mal 15 ½ Jahre alt, als ich im Hafen von Rotterdam stand und als Matrose auf einem Schiff anheuern wollte. Die Lehre als Möbelschreiner hatte ich geschmissen.
Ausgeschlossen aus der Familie, von meinem Vater, wollte ich meinen Weg inskünftig selbst bestimmen und beschreiten. Leider kam es anders. Noch bevor ich von einem Kapitän oder einer Reederei die Zusage hatte, verhaftete mich die Polizei in meinem Hotelzimmer. Es folgte eine schwierige Zeit mit Abklärungen, Befragungen, Gefängnis und letztlich mit dem Rückschub in die Heimat. Die vom Schweizerkonsul hergestellte telefonische Verbindung in mein Elternhaus trug nicht dazu bei, dass mein Vater mich ganz frei gab und der von mir geforderten Ausschaffung an die belgische Grenze zustimmte. So kam ich zu meinem ersten Flug zurück in die Schweiz. Zurück in ein Leben, das ich eigentlich nicht mehr wollte. Es waren vielleicht die schicksalhaftesten Tage meines Lebens.
 
Geboren an einem Sonntag, am 13. März 1949, beweinte mich meine Mutter wegen meinem birnenhaftgeformten Kopf, die Folge einer Steisslage vor der Geburt. Erst nach einigem Zureden und dem Hinweis darauf, dass dieser sich schon noch wohlformen werde, beruhigte sich meine Mutter. Mein Vater hatte sich, nach drei Töchtern, sehnlichst einen Sohn gewünscht, wohl aber nicht einen mit einem derartigen „schepsen“ Kopf.
 
Meine Kindheit verbrachte ich in einer unkonventionellen Familie, die sich in Armut so recht und schlecht durchs Leben kämpfte. Meines Vaters Familie erlebte den Sturz aus grossem Reichtum. Seine erste mit vier Kindern gegründete Familie scheiterte und in seiner zweiten Familie folgten fünf weitere Kinder. Ausser zu einer Tochter der ersten Ehe und deren Familie pflegte er keinen Kontakt zum vorangegangenen System. Seinen Beruf als Koch musste er aus gesundheitlichen Gründen aufgeben, während der grossen Arbeitslosigkeit ca. 1930 musste er seinen Lebensunterhalt mit Tankreinigungen verdienen und später als Hilfsarbeiter in der Druckerei Birkhäuser in Basel. Als Nachtschichtarbeiter schlief er meist am Tag, was uns zur Rücksichtnahme zwang. Im inneren blieb er ein Aristokrat, der sich ausserhalb der Wohnung ausschliesslich mit weissem Hemd (mit Manschettenknöpfen), mit Krawatte (und Krawattennadel), mit einem Kittel (mit Brochette) und mit haarnadelscharf gebügelten Falten in den Hosen zu bewegen gedachte. Der Hemdkragen musste so steif gebügelt sein, dass sich meine Mutter mit dem ganzen Gewicht aufs Glätteisen legen musste (wie übrigens auch bei den Bügelfalten). Als ältester Sohn hatte ich ein Mann zu werden, denn Gefühle sind „Weibersache“, so die prägende und bestimmte lieblingsaussage Meines Vaters.
 
Meine Mutter eine kleine Frau mit einer grossen Nase, deretwegen sie als Kind als „Juive“ (Jüdin) gehänselt wurde, wuchs zuerst im Welschland und dann im Baselbiet auf. Sie beherrschte weder die deutsche noch die französische Sprache ganz. Das Sprechen ging bedeutend besser als das schreiben. Als älteste von acht Kindern musste sie als zwölfjähriges Mädchen miterleben, wir ihrer Mutter von der Fürsorgebehörde alle Kinder weggenommen wurden (Kinder der Landstrasse). Die Polizei und eine Fürsorgerin fuhren eines Tages mit einem Bus vor und luden die Kinder vor den Augen ihrer Mutter ein. Das jüngste Kind, ein halbjähriger Knabe, wurde der Mutter aus den Armen gerissen und meiner Mutter übergeben. Mit ihm wurde auch sie in den Bus gezwungen. Sie hat oft erzählt, wie sie sich nach der Mutter umgesehen hatte, die verzweifelt schreiend und französisch fluchend lange hinter dem Bus hergerannt sei. Sie sollte sie danach bis zu ihrem fünfzigsten Lebensjahr nicht mehr sehen.
 
Alle acht Kinder wurden voneinander getrennt in Bauernfamilien verdingt oder an Ersatzeltern abgegeben. Zwei wuchsen später im selben Heim auf, ohne zu wissen, dass sie Geschwister sind. Hätten sie das Erfahren, wären sie sofort wieder getrennt worden.
 
Wie die meisten Verdingkinder wuchs meine Mutter als Magd auf, wurde ausgenutzt geschlagen und sexuell missbraucht. Mit knapp 15 Jahren wurde sie vom Bauern vergewaltigt und gebar ihren ersten Sohn. Zuerst wusste sie in ihrer Naivität nicht, dass sie schwanger war. Ihr dicker werdender Bauch hat man langandauernden Blähungen zugeschrieben, was sie auch tatsächlich glaubte. Erst unmittelbar vor der Geburt hat sie erfahren, dass sie jetzt ein Kind gebären würde. Entsprechend ihr Schock. Als sie nach der Geburt nach ihrem Kind fragte, erklärte man ihr, dass dies nichts für sie sei und eine nette Familie sich bereit erklärt habe es aufzuziehen. Der Knabe war 46 Jahre alt, als sie ihn zum ersten Mal sah. In der Folge arbeitete sie als gelernte Glätterin und als Dienstmädchen. Sie sang bei der Heilsarmee und leistete Militärdienst. Als militärische Küchenhilfe lernte sie während dem zweiten Weltkrieg meinen Vater kennen. Sie heirateten nach dessen Scheidung.
 
Nach drei Mädchen kam ich zur Welt. Ein lustiger, wilder Knabe mit langen blonden und lockigen Haaren. Kaum zweijährig, kam auch ein Onkel in unsere Familie, ein Mann, den meine Mutter bei einem Kindergartenbesuch mit meiner Schwester kennengelernt hatte. Er hauste zwar in einer Einzimmerwohnung, lebte aber mit uns und begleitete uns immer in die Familienferien, während mein Vater sich mit einem Generalabonnement nach Österreich (die ursprüngliche Heimat seines Grossvaters) absetzte. Sechs Jahre später kam noch mein jüngerer Bruder zur Welt. So lebte ich fortan mit vier Geschwistern und zwei Vätern zusammen. Damit das Geld ausreichte, lebte zeitweise auch ein Bruder meiner Mutter in unserer kleinen Wohnung.
 
Als mein jüngerer Bruder zur Welt kam mussten meine ältere Schwester und ich auf den Beatenberg ins Kinderheim „Luegisland“. Ich weiss noch, wie sehr meine Schwester Heimweh hatte. Ich hatte mich arrangiert und versuchte die Situation zu akzeptieren. Als heute noch gegenwärtiges Erlebnis erinnere ich mich daran, dass eine „Erzieherin“ sich dazu befähigt fühlte mich zum Essen einer rohen Tomate zu essen. Immer nachdem ich mich auf der Toilette erbrochen hatte und an den Tisch zurückkam, schob sie ein neues Stück in meinen Mund. Auch weiss ich noch, dass die Frau ein „Pfürzi“ (zu einem Knoten zusammengebundene Haare) hatte. Bis ins Erwachsenenleben hinein mied ich alle Frauen mit derartigen Frisuren. Sie kamen mir allesamt hart und gemein vor. Letzteres konnte ich gut verarbeiten, rohe Tomaten esse ich auch heute immer noch nicht.
 
Aufgrund meiner Narben am ganzen Körper muss ich tatsächlich ein wilder Junge gewesen sein. Im Kindergarten in Riehen spaltete es mir beim Sturz auf die Kannte des Sandkastens das linke Ohr, sodass es der Herr Dr. Handschin nähen musste. Wenig später schlug mir beim Spielen, am neuen Wohnort in Kleinhüningen, ein anderer Knabe einen Hammer derart auf den Kopf, dass es die Schädeldecke nur wenig über dem Kleinhirn einschlug. Zu Fuss und an der Hand geführt musste ich, nach einer oberflächlichen Erstversorgung, ins Geschäft des hammerschlagenden Sohnes Vater marschieren, um zu zeigen, was dieser angerichtet hatte. Erst dann kam man auf die Idee, mich auch noch zum Nähen in ein Krankenaus zu bringen. Weil ich beim Reden mit dem „S“ meine Mühe hatte und daher lispelte, fuhr ich mit dem Vierer- und dem Sechsertram regelmässig von Kleinhüningen in die Allschwilerstrasse zu Frau Dr. Bernulli. Meine älteste Schwester begleitete mich dabei. In der Spracheilschule lernte ich, dass der Hund (meine Zunge) sich hinter dem Gartenzaun (meine unteren Zähne) verstecken muss, wenn er knurrt (Sssssssssssss). Nur dann kann er sich richtig verhalten, wenn jemand zu nahekommt. An einem Tag stand ich mit meiner Schwester an er Tramhaltestelle beim Brausebad. Da kreuzen sich zwei Tramlinien und beide konnten wir benutzen, um nach Hause zu kommen. Ich beachtete das Tram auf der anderen Seite und wollte über die Strasse rennen. Meine Schwester hielt mich zurück und ich stolperte. Unglücklicherweise kam zur gleichen Zeit ein Fahrrad und ich fiel darauf. Die Bremse bohrte sich unter dem linken Auge in mein Gesicht. Ich hatte viel Glück im Unglück. Der verkehrsregelnde Polizist (es gab damals noch keine Ampeln) kam angerannt und zerrte mich in die nahegelegene Apotheke. Der Apotheker schloss in einem schmerzhaften Akt die Wunde mit drei Klammern. So folgten weitere Hautschürfungen und Wunden. Zum Glück habe ich mir nie etwas gebrochen.
 
Um den Lebensunterhalt mitzuverdienen, glättete meine Mutter in einer Glätterei auf der Lyss in Basel und putzte in viele Geschäften und Haushalten. So auch beim Kunstmaler Maeglin, der vis à vis unserer Wohnung an der Bändelgasse 5 in Kleinhüningen lebte und arbeitete. Ich erinnere mich noch gut an das Backsteinhaus, die zweistöckige Wohnung und das angebaute grosse Atelier im Hinterhof. Meine Mutter hatte immer Angst, weil sie wusste, dass Herr Maeglin eine Pistole hatte. Regelmässig begleitete ich meine Mutter zu Herrn Maeglin. Während sie putzte, versuchte er immer wieder meine zum Gebet gefalteten Hände zu malen. Er sagte immer, dass dies das Schwierigste sei und er es einfach nicht beherrsche. Zum Dank schenkte er mir drei Bilder, auf zweien hat er mich abgemalt und auf einen Rundlauf für Kinder im Kannenfeldpark. Ich habe nur gute Erinnerungen an den Kunstmaler Maeglin, der früher mal Arzt gewesen und aus der Gesellschaft ausgestiegen sein soll.
 
Bevor wir an die Flughafenstrasse in ein Haus für kinderreiche Familien umziehen konnten, zogen wir in der Bändelgasse aus in ein Notwohnungsquartier im Gaswerkareal des Basler Rheinhafens. In der Schule Kleinhüningen besuchte ich die erste und zweite Klasse. In diesem Milieu lernte ich auch, mich unter erschwerten Umständen durchzusetzen. Wenn mein Vater die Barragen Siedlung verliess, sagten ihm die Leute ironisch nach, der Barron verlässt seine Villa. Seinen Gehstock stolz schwingend (mit einem kleinen Zwischenschwung) stolzierte er stets seinen Weg. In der zweiten Klasse wollte ich beim Versuch am tiefen Teil eines Bassins im Schifferkinderheim auf einen aufgeblasenen Autoschlauch springen, kippte ab, sank in die Tiefe und musste gerettet und ausgepumpt werden. Von diesem Erlebnis an hielt ich Schwimmen für keine gute Idee und ging nur noch ins Wasser, wenn ich festen Boden unter den Füssen verspürte. Erst viel später versuchte ich mit „Unterwasserschwimmen“ mein Glück und lernte dann doch noch einigermassen das schwimmen.
 
Es folgte der definitive Umzug an die Flughafenstrasse und somit der Schulwechsel ins Isaak Iselin Schulhaus. Mein Lehrer, Herr Hufschmid, führte seine Knabenklasse streng. Wie ich später erfuhr, hat er sich unerwarteterweise später das Leben genommen. Zu dieser Zeit waren „Turmfrisuren“ der grosse Hit. Ich konnte es nicht lassen, in einer Pause, einen solchen Turm umzustossen. Was die Schlimmste aller Strafen zur Folge hatte. Ich musste mich vor einer ganzen Mädchenklasse entschuldigen.
 
Wie schon in Kleinhüningen hatte ich meine besten Schulnoten im Singen und im Turnen. Als regelmässiger Kommentar stand in meinen Zeugnissen der Kommentar „Schwatzhaft“. Nach vier Jahren Primarschule besuchte ich weitere vier Jahre Sekundarschule bei Herrn Degen im Pestalozzischulhaus im St. Johann Quartier. Ich war nie in einer gemischten Klasse. Mädchen und Knaben wurden wohlweislich separat unterrichtet.
 
Neben der Schule verbrachte ich die Zeit mit den Wölfli und später bei den Pfadfindern. Ich spielte Handball und Handharmonika und erfreute mich als guter Tänzer auf verschiedenem Parkett. So lernte ich alle gesellschaftlichen Schichten kennen, der „Knigge“ war eine unabdingbare Voraussetzung dazu. Ohne die perfekten Anstandsregeln hätte man auf einem Ball nie erscheinen dürfen. Mit einer kleinen Gruppe von Mädchen und Knaben stellten wir uns als PartytänzerInnen Leuten zur Verfügung, die nicht ohne PartnerIn an einen Ball wollten. Mangels notwendiger Finanzen hätte ich wohl kaum je einen Ball finanzieren können.